Allgemeinverfügung Impfverbot zum Erhalt des Status „seuchenfrei“
in Bezug auf Bovine Virusdiarrhoe bei gehaltenen Rindern
Tierseuchenrechtliche Allgemeinverfügung zur Anordnung eines Impfverbotes gegen die Infektion mit dem Virus der Bovinen Virusdiarrhoe (BVDV = Bovines Virusdiarrhoe-Virus) bei Rindern.
Auf der Grundlage des §2 Absatz 1 Nr. 2 der BVDV-Verordnung[i] werden nachstehende Maßnahmen für Rinder haltende Betriebe in der Hansestadt Lübeck angeordnet und bekannt gegeben.
Begründung:
Die Bovine Virus Diarrhoe (BVD) ist eine in Deutschland seit 2004 anzeigepflichtige und seit 2011 im Rahmen der BVDV-Verordnung bekämpfungspflichtige Rinderseuche, die weltweit verbreitet ist und zu den verlustreichsten und wirtschaftlich bedeutendsten Virusinfektionen bei Rindern zählt.
Eine Übertragung des Virus kann über Kot, Speichel und andere Körpersekrete auf horizontalem Wege von Tier zu Tier erfolgen. Die Aufnahme des Virus geschieht meist auf oralem oder nasalen Wege. Derartige Infektionen werden als transient (vorübergehend) bezeichnet und können mit vielfältigen Gesundheitsstörungen wie respiratorischen Symptomen, Durchfall, Fieber und bei Kühen mit sinkender Milchleistung und Fruchtbarkeitsstörungen einhergehen. Die Krankheitssymptome gehen i.d.R. nach einigen Tagen bis wenigen Wochen vorüber. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Übertragung des Virus vom tragenden Muttertier über die Placenta auf das ungeborene Kalb. Derart infizierte Kälber sind persistent (dauerhaft) infiziert und werden daher als PI-Tiere (PI = persistent infiziert) bezeichnet. Sie fungieren als „Motor der Infektion“, da sie ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt das Virus zeitlebens in hohen Mengen ausscheiden und somit Infektketten aufrechterhalten – zum einen im Betrieb, zum anderen aber auch beim Transport und Verbringen. Bei Kontakt eines PI-Tieres mit einem trächtigen Rind kann das trächtige Rind eine transiente Infektion durchlaufen und zeitgleich das ungeborene Kalb infizieren, welches dann wiederum als PI-Tier zur Welt kommt.
PI-Tiere können zu Kümmerern werden und an Mucosal Disease (MD) erkranken. Hierbei handelt es sich um eine durch u.a. Erosionen der Schleimhäute und blutigen Durchfall gekennzeichnete immer tödlich verlaufende Erkrankung durch Virusmutation.
Der Bedeutung von PI-Tieren für die Weiterverbreitung der BVD wird im Rahmen der BVDV-Verordnung Rechnung getragen: Kernpunkt der seit 2011 bestehenden Verordnung ist die Untersuchungspflicht aller Nutzrinder innerhalb des ersten Lebensmonats, die bei negativem Ergebnis zu einer lebenslang gültigen Zertifizierung als virusfreies Rind („BVDV-unverdächtig“) führt. Seit Inkrafttreten der BVDV-Verordnung ist ein kontinuierlicher Rückgang der Anzahl BVDV-infizierter Bestände zu verzeichnen. Im Vordergrund der Bekämpfung steht dabei immer die Identifikation von PI-Tieren und deren Entfernung aus den Beständen.
Mit Inkrafttreten des EU-Tiergesundheitsrechts „Animal Health Law“ (VO (EU) 2016/429[ii] sowie Delegierte und Durchführungsverordnungen) ist es den EU-Mitgliedstaaten und Zonen derselben (auf Landes- oder Kreisebene) möglich, den Status „seuchenfrei“ in Bezug auf BVD zu erlangen. Schleswig-Holstein ist mit Veröffentlichung der Durchführungsverordnung (EU) 2022/214[iii] zur Änderung u.a. des Anhangs VII Teil II der Durchführungsverordnung (EU) 2021/620[iv] seit 17.02.2022 als Zone eines Mitgliedstaates mit einem genehmigten Tilgungsprogramm gelistet. Aufgrund des bisherigen Fortschritts bei der Bekämpfung der BVD im Rahmen dieses Tilgungsprogramms wird durch das Ministerium für Landwirtschaft, ländliche Räume, Europa und Verbraucherschutz (MLLEV) des Landes Schleswig-Holstein bis spätestens 20.04.2023 bei der Europäischen Kommission ein Antrag auf Gewährung des Status „seuchenfrei“ aufgrund historischer Daten und Überwachungsdaten gemäß Artikel 36 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer ii der Verordnung (EU) 2016/429 für die Kreise und kreisfreien Städte gestellt die den Anforderungen für die Gewährung des BVD-Freiheitsstatus gemäß Anhang IV Teil VI Kapitel 2 Abschnitt 1 der Delegierten Verordnung (EU) 2020/689[v] genügen. Hierzu gehört auch die Hansestadt Lübeck. Die rechtliche Grundlage der Anforderungen zur Gewährung und Aufrechterhaltung des Status „seuchenfrei“ auf der Grundlage historischer Daten und Überwachungsdaten ergibt sich aus Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe b i.V.m. Artikel 72 Buchstabe f i.V.m. Anhang IV Teil VI Kapitel 2 der Delegierten Verordnung (EU) 2020/689. Eine der Voraussetzungen ist gemäß Anhang IV Teil VI Kapitel 2 Abschnitt 1 Buchstabe a das Verbot einer Impfung gegen die Seuche.
Artikel 71 der Verordnung (EU) 2016/429 eröffnet den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, zusätzlich zu den Seuchenbekämpfungsmaßnahmen nach europäischem Recht nationale Maßnahmen festzulegen, sofern die nationalen Maßnahmen dem europäischen Recht genügen und zur Bekämpfung der Ausbreitung der Seuche erforderlich und verhältnismäßig sind. Die nationale BVDV-Verordnung gilt somit in allen Teilen weiter, sofern sie nicht geringere Anforderungen als das europäische Recht stellt oder diesem widerspricht und die Maßnahmen erforderlich und verhältnismäßig sind. Gemäß § 2 Absatz 1 Nummer 2 der BVDV-Verordnung kann die zuständige Behörde die Impfung der Rinder eines bestimmten Gebietes gegen die BVDV-Infektion verbieten, wenn Belange der Tierseuchenbekämpfung nicht entgegenstehen.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Mit der Erlangung des BVD-Freiheitsstatus gehen verpflichtende Zusatzgarantien beim Verbringen von Rindern nach Schleswig-Holstein einher, die es Hansestadt Lübeck ermöglichen, ihre Rinderbestände vor BVDV-Neuinfektionen zu schützen. Bei den genannten Zusatzgarantien handelt es sich je nach Herkunft der verbrachten Tiere um zusätzliche virologische sowie serologische Untersuchungen vor dem Transport der zu verbringenden Tiere, um sicherzustellen, dass von diesen Tieren keine Gefahr einer Verschleppung des Virus ausgeht. Dieser Schutz vor einer (Wieder-)Einschleppung des Virus ist mit einer sukzessiven und signifikanten Verbesserung des Tiergesundheitsniveaus verbunden. Insofern hat das für die Erlangung des BVD-Freiheitsstatus notwendige Impfverbot langfristig unmittelbare und praktische Auswirkung auf die Tierseuchenbekämpfung und -prävention und somit auf die Tiergesundheit der Rinderbestände.
Da die Erlangung der BVD-Freiheit eine verbesserte Prävention vor und Bekämpfung der BVD bedingt, kann konstatiert werden, dass Belange der Tierseuchenbekämpfung einem Impfverbot nach § 2 Absatz 1 Nummer 2 BVDV-V nicht nur nicht entgegenstehen, sondern vielmehr das Impfverbot indirekt sogar der Tierseuchenbekämpfung dienlich ist.
Darüber hinaus hat das Impfverbot auch einen direkten Einfluss auf die Diagnostik im Rahmen der Tierseuchenbekämpfung und -prävention: In der serologischen Diagnostik ist eine Unterscheidung zwischen mit Feldvirus infizierten Tieren einerseits und geimpften Tieren andererseits nicht möglich. Im Rahmen der Etablierung serologischer Testverfahren ist es obligatorisch, den Anteil geimpfter Tiere an der Gesamtpopulation zu reduzieren. Je mehr geimpfte Tiere vorhanden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von serologisch positiven Nachweisen, die u.U. den BVD-Freiheitsstatus auf Betriebsebene gefährden können. Zudem könnte die Nichtunterscheidbarkeit geimpfter Tiere von mit Feldvirus infizierten Tieren das Erkennen eines Seuchenausbruchs einschränken und ein frühzeitiges Einsetzen von Seuchenbekämpfungsmaßnahmen dadurch erschweren. Nur durch ein BVD-Impfverbot kann über eine sukzessive Reduktion des Anteils der gegen BVD geimpften Rinder langfristig sichergestellt werden, dass serologische Untersuchungsergebnisse einwandfrei interpretiert und eingeordnet werden können.
Das Verbot der Impfung ist geeignet, erforderlich und angemessen. Es ist geeignet, um den Anteil nicht geimpfter Tiere innerhalb der Rinderpopulation in der Hansestadt Lübeck zu erhöhen, Reinfektionen zu vermeiden und es ist Voraussetzung dafür, dass die Hansestadt Lübeck den Status „seuchenfrei“ erlangen kann. Es ist erforderlich, da unter Berücksichtigung des Erregers und dessen Verbreitungseigenschaften keine mildere, aber gleich wirksame Maßnahme zur Verfügung steht. Zudem ist das Impfverbot auch erforderlich, um die Anerkennung „seuchenfrei“ durch die EU überhaupt erreichen zu können. Das Impfverbot ist ferner angemessen, da das öffentliche Interesse an der Bekämpfung der Seuche und dem Schutz der Tiere vor Krankheiten sowie das Interesse, den Status „seuchenfrei“ zu erlangen, höher einzuschätzen sind als das wirtschaftliche Interesse einzelner Halterinnen oder Haltern von Rindern oder deren Interesse an einer Impfung.
Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung:
Nach § 80 Absatz 2 Nummer 4 der Verwaltungsgerichtsordnung kann die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse besonders angeordnet werden. Diese Voraussetzung liegt hier vor, da die Ausbreitung der BVD und somit die Gefahr von tiergesundheitlichen wie auch wirtschaftlichen Folgen sofort unterbunden werden muss. Es besteht ein öffentliches Interesse daran, dass keine BVDV-Infektionen bspw. durch Zukauf infizierter Tiere auftreten und dass bei Vorliegen einer BVDV-Infektion möglichst frühzeitig eine eindeutig interpretierbare Diagnostik und ggf. notwendige Seuchenbekämpfungsmaßnahmen eingeleitet werden können. Das Bestehen eines Impfverbotes ist notwendige Voraussetzung, um den Status „seuchenfrei“ zu erhalten. Die Erlangung desselben bedingt nicht nur ein hohes abgesichertes Tiergesundheitsniveau durch die zusätzlichen Untersuchungen, die beim Verbringen von Rindern in die Hansestadt Lübeck eingefordert werden können, sondern auch erhebliche Vorteile für den Handel und die Vermarktung von Rindern in andere „seuchenfreie“ Gebiete innerhalb Deutschlands und der EU. Eine Nicht-Erreichung des Freiheitsstatus würde für alle Halterinnen und Haltern von Rindern schwere negative wirtschaftliche Folgen mit sich bringen.
Käme es hierbei zu einer zeitlichen Verzögerung durch Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung, könnte der BVD-Freiheitsstatus nicht erlangt werden, sodass eine bessere Absicherung der Rinderbestände nach außen nicht möglich wäre und der (Wieder-)Einschleppung der BVD sogar Vorschub geleistet werden würde. Darüber hinaus würden weitere Impfungen einerseits eine Teilnahme der impfenden Betriebe an Verfahren des serologischen Monitorings verunmöglichen, andererseits könnten durch die Nichtunterscheidbarkeit geimpfter von infizierten Tieren im Rahmen der Diagnostik bei BVD-Verdachtsfällen und -Ausbrüchen Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig interpretiert werden, was eine Eindämmung der BVD im betroffenen Betrieb erschweren würde. In ersterem wie auch in letzterem Fall entstünden den Halterinnen und Haltern von Rindern erhebliche wirtschaftliche Schäden.
Es liegt im öffentlichen Interesse, dass auch während eines Rechtsmittelverfahrens die erforderlichen Seuchenerkennungsmaßnahmen durchgeführt werden können und die Hansestadt Lübeck als „seuchenfrei“ in Bezug auf BVD bei gehaltenen Rindern anerkannt wird und bleibt. Mit der Erteilung des Status „seuchenfrei“ sind tiergesundheitliche Garantien in Form zusätzlicher Transportuntersuchungen zum Schutz vor dem Eintrag der BVD in die Rinder haltenden Betriebe verbunden. Die Maßnahmen dienen dem Schutz hoher Rechtsgüter. Die Gefahr der Weiterverbreitung der Seuche und der damit verbundenen wirtschaftlichen Schäden sind höher einzuschätzen als persönliche Interessen an der aufschiebenden Wirkung als Folge eines eingelegten Rechtsbehelfs.
Hinweis:
Anzeigepflicht: Jeder Verdacht der Infektion eines Rindes mit BVDV ist dem Veterinäramt unverzüglich anzuzeigen (§ 4 Tiergesundheitsgesetz[vi]).
Rechtsbehelfsbelehrung:
Gegen diese Verfügung kann innerhalb eines Monats nach Zustellung Widerspruch erhoben werden. Der Widerspruch kann schriftlich oder zur Niederschrift bei der Hansestadt Lübeck -Der Bürgermeister, Bereich UNV, Abteilung Veterinärwesen und Lebensmittelüberwachung, Carl-Gauß-Str. 9, 23562 Lübeck oder durch De-Mail in der Sendevariante mit bestätigter sicherer Anmeldung nach § 5 Abs. 5 DE-Mail-Gesetz an info@luebeck.sh-kommunen.de-mail.de erhoben werden.
Lübeck, den 06.04.2023 gez. Dr. Tischbirek, ltd. Amtstierärztin
[i] Verordnung zum Schutz der Rinder vor einer Infektion mit dem Bovinen Virusdiarrhoe-Virus (BVDV-Verordnung)
[ii] Verordnung (EU) 2016/429 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 zu Tierseuchen und zur Änderung und Aufhebung einiger Rechtsakte im Bereich der Tiergesundheit („Tiergesundheitsrecht“)
[iii] Durchführungsverordnung (EU) 2022/214 der Kommission vom 17. Februar 2022 zur Änderung bestimmter Anhänge der Durchführungsverordnung (EU) 2021/620 hinsichtlich der Genehmigung oder Aberkennung des Status „seuchenfrei“ für bestimmte Mitgliedstaaten oder Zonen oder Kompartimente dieser Mitgliedstaaten in Bezug auf bestimmte gelistete Seuchen und hinsichtlich der Genehmigung von Tilgungsprogrammen für bestimmte gelistete Seuchen
[iv] Durchführungsverordnung (EU) 2021/620 der Kommission vom 15. April 2021 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) 2016/429 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Genehmigung des Status „seuchenfrei“ und des Status der Nichtimpfung für bestimmte Mitgliedstaaten oder Zonen oder Kompartimente dieser Mitgliedstaaten in Bezug auf bestimmte gelistete Seuchen und der Genehmigung von Tilgungsprogrammen für diese gelisteten Seuchen
[v] Delegierte Verordnung (EU) 2020/689 der Kommission vom 17. Dezember 2019 zur Ergänzung der Verordnung (EU) 2016/429 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich Vorschriften betreffend Überwachung, Tilgungsprogramme und den Status „seuchenfrei“ für bestimmte gelistete und neu auftretende Seuchen
[vi] Gesetz zur Vorbeugung vor und Bekämpfung von Tierseuchen (Tiergesundheitsgesetz)